Illustration: Shang Junyi

Am 01.04.1991 bin ich in Berlin gelandet. Es ist schon 30 Jahre her. Das heißt, dass ich die Hälfte meines Lebens in China verbracht habe und die andere Hälfte in Deutschland. Seit dem 01.04.2021 bin ich nervös, weil jeder einzelne zusätzliche Tag sich auf meine 30 Jahre hier türmt, und es wird von Tag zu Tag einer mehr. Eines Tages werde ich korrekterweise sagen müssen, ich habe mein Leben überwiegend in Deutschland gelebt. Das macht mich nicht traurig, aber auch nicht glücklich. Es ist ein bizarres Gefühl in mir.
Ich verlor meine Heimat, als ich am 01.04.91 ins Flugzeug stieg. Damals war mir nicht bewusst, dass ich meine Heimat für immer verlieren würde. Ich dachte, ich werde doch gelegentlich zurückkommen, die Heimat ist immer da.
Nein. Die Heimat ist nicht immer da. Bei meiner ersten Rückkehr war ich schon eine Fremde.
Die Straße, die ich kannte, war spurlos verschwunden. Ich fragte einen Passanten, er fragte mich zurück, was willst du denn? Wenn ich auf seinen Ton höre, scheint es, als wäre ich eine Person mit bösen Absichten und Hintergedanken.
Die Menschen in meiner Heimat sind zurückhaltend, bescheiden und anständig, zumindest in meiner Erinnerung. Bei meiner zweiten Rückkehr wurde meine Erinnerung gestürzt. Als ich mit meiner deutschen Freundin in einem Geschäft war, sprach die Verkäuferin mich flüsternd an, lasse deine Freundin so viel wie möglich kaufen, du kriegest von mir 20 Prozent Rabatt. Seit wann sind die Menschen meiner Heimat so ehrlich geworden? Zu sich selbst, und zu Fremden nicht.
Als Kind ging ich nach der Schule immer zu meiner Mutter ins Büro. Sie war Richterin für Zivilrecht. Ihr Büro befand sich in einem burgmäßigen Gebäude. Im Sommer war es drinnen kühl und im Winter warm. Als ich die prächtige Treppe hinaufging, dachte ich immer, dass ich nie groß genug werden könnte, um zu der Treppe zu passen. Das Gebäude ist nun fort, auch die Treppe ist nicht mehr zu finden.
Ich fragte meine Mutter, warum. Sie sagte, das Gebäude habe einen bürgerlichen Baustil gehabt. Das habe nicht zur Arbeiterklasse gepasst. Und wer hätte die Heizkosten für eine fünf Meter hohe Decke tragen sollen? Oh, verstehe! Ich habe aber nie verstanden.
Ich ging mit einer chinesischen Freundin in ein kleines am Straßenrand liegendes Restaurant essen. Sie fragte, warum wir nicht zu einem besseren Restaurant gehen. Ich sagte ihr, in Deutschland vermisse ich oft hauchdünn geschnittene gebratene Kartoffelstreifen und Seetangsalat, die gibt es nur in solchen kleinen Restaurants. Oh, verstehe, sagte sie. Sie hat nie verstanden, glaube ich. Nach dem Essen war ich in meiner Heimat angekommen.
Meine Heimat kennt mich nicht mehr, da ich keinen chinesischen Ausweis besitze, deshalb habe ich in meiner Heimat keinen Status. Stattdessen habe ich jetzt jede Menge Privilegien mit meinem deutschen Pass. Aber die Privilegien werden mit viel Geld verrechnet. Man bekommt sie, ob man will oder nicht. VIP Wartezimmer, VIP-Terminal, VIP-Beratungsraum, VIP-Empfang weisen zu meiner Zugehörigkeit. Das macht es möglich, mich und meine Landsleute zu distanzieren. Ich habe das aber nie gewollt.
Wenn ich nun sagen sollte, dass ich die lauten Tage in China vermisst hätte, würde ich mich selbst anlügen, und wenn ich sagen wollte, dass mir die tödliche Stille inmitten der deutschen Nachbarschaft gefällt, würde ich mich ebenfalls selbst anlügen.
Es ist fast 30 Jahre her, dass ich China verlassen habe.
Ich kann nur sagen, dass ich mich langsam an die Stille der deutschen Nachbarschaftsverhältnisse gewöhnt habe. Diese Stille hat mir Gelegenheit zum Nachdenken und Raum fürs Fantasieren gegeben. Wenn ich gelegentlich an das laute Leben in chinesischen Vierteln zurückdenke, gibt es in meinem Herzen eine Art Wärme, die eine Form von Erinnerung an meine Heimatstadt und ein Andenken an meine Mutter ist.
Die klassische Heimat wohnt nun in mir.
Wenn ich auf Deutsch spreche, habe ich einen chinesischen Akzent. Das ist, was ich von meiner Heimat behalten habe.